Gazette: Neue Musik in NRW - Ausgabe März 2017
Gewesen: Weinbergs Die Passagierin in Gelsenkirchen – Schönes Wochenende in Düsseldorf – Oehrings AscheMond in Wuppertal
Angekündigt: Stauds Antilope in Köln – Seminar und Konzert zu Maryanne Amacher – Soundtrip NRW mit Henrik Munkeby Nørstebø u.v.a.m.
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[Weinbergs Die Passagierin am Gelsenkirchener MIR]
Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, sagte Adorno. Seitdem sind Millionen von Gedichten, Dramen, Symphonien, Opern usw. geschrieben worden, aber Auschwitz selbst auf die Bühne zu bringen, bleibt problematisch. Mieczyslaw Weinberg wagte diesen Schritt mit seiner Oper Die Passagierin, die am 28.1. im Gelsenkirchener MIR Premiere hatte. Das Libretto basiert auf dem gleichnamigen Roman der Auschwitzüberlebenden Zofia Posmysz, die sich die Frage stellte: „Was wäre, wenn ich einem der Täter plötzlich leibhaftig begegnen würde?“ Sie entwirft die Geschichte der ehemaligen Lageraufseherin Lisa, die mit ihrem Gatten nach Brasilien reist, wo dieser für das Wirtschaftswunderland BRD einen diplomatischen Posten antreten soll. Wir schreiben das Jahr 1960 und befinden uns somit in sicherer Entfernung zu den Gräueln der Nazis, aber auch zu den erst Ende der 60er vehementer werdenden Forderungen nach Aufarbeitung. Das Paar ist in euphorischer Stimmung und blickt hoffnungsvoll in die Zukunft, da glaubt Lisa in einer Passagierin die ehemalige Lagerinsassin Marta wiederzuerkennen und die Vergangenheit bricht jäh über sie herein. Die heute 94-jährige Posmysz weiß, wovon sie schreibt. Als 18-jährige wurde sie beim Verteilen von Flugblättern verhaftet und kam in die Hölle von Auschwitz, die sie wie durch ein Wunder überlebte. Und auch Weinberg hat Verfolgung am eigenen Leib erfahren. 1919 in Warschau geboren floh er 1933 vor dem deutschen Überfall auf Polen über Minsk und Taschkent nach Moskau, doch auch dort war er nicht sicher. 1953 fiel er den antisemitischen Säuberungsaktionen unter Stalin zum Opfer und wurde inhaftiert. Nach Stalins Tod kam er zwar frei, doch die Rehabilitierung betraf nicht sein Werk. Mit dem Verdikt des „abstrakten Humanismus“ belegt durfte die 1968 komponierte Oper Die Passagierin zu Sowjetzeiten nicht aufgeführt werden und erlebte erst 2006 ihre konzertante Uraufführung in Moskau und 2010 ihre szenische Uraufführung bei den Bregenzer Festspielen. Die durch die Biographien gewährleistete Authentizität macht es erst möglich und erträglich, Auschwitz auf die Bühne zu bringen. Lisa wird von ihren Erinnerungen eingeholt, vor ihren und unseren Augen spielt sich erneut der Überlebenskampf der Lagerinsassinnen ab. Doch im Vordergrund stehen nicht die Schrecken der Vernichtungsmaschinerie, die letztlich nicht darstellbar sind, sondern die nicht weniger schrecklichen Banalitäten des Alltags. Zwar nicht angenehm aber immer noch 'amüsanter als an der Ostfront' finden die SS-Männer ihren Dienst, den sie sich durch Flirts mit den Aufseherinnen versüßen. Diese sind wie alle einer strengen Hackordnung unterworfen, weshalb Lisa versucht, sich Marta durch Gefälligkeiten gefügig zu machen und sie zu instrumentalisieren. Die Lagerinsassinnen selbst sind hin- und hergerissen zwischen Verdrängung und Verzweiflung, Solidarität und Verrat, Glaube und Zweifel und versuchen, sich einen Rest von Normalität und Menschlichkeit zu bewahren. Dieser Blick in das alltägliche Grauen greift mehr an als die heroischen und überhöhten (und damit tröstlichen) Passagen, wie sie z.B. in einer Liebesszene zwischen Marta und ihrem Verlobten und seiner Standhaftigkeit angesichts des Todes aufscheinen.
In der Gelsenkirchener Inszenierung versetzt Gabriele Rech das Geschehen in ein Einheitsbühnenbild (Dirk Becker), ein nüchtern-elegantes Barambiente; hier wird getrunken, gescherzt und getanzt, gelitten, gebeichtet und geliebt. Auf diese Weise entsteht Nähe und Distanz zugleich. Es wird nicht versucht, KZ-Baracken nachzuempfinden, die SS-Männer und Lagerinsassen dringen – wie die Erinnerungen – unmittelbar in das eben noch so gepflegt und sicher wirkende Milieu ein. Gleichzeitig wird das Publikum eingebunden, denn es könnte sich hier auch um das Foyer der Oper handeln, wo wir selbst uns – mit einem Glas Wein in der Hand – der Frage 'Erinnern oder Vergessen' stellen müssen. Noch führt die Forderung nach einer 'erinnerungspolitischen Wende um 180°' zu einem einhelligen Aufschrei, aber wird diese Front dauerhaft halten? Dass sie nicht selbstverständlich ist, zeigt der Blick zurück in die 60er Jahre. Lisas Gatte, der auf dem Schiff erstmalig mit der Vergangenheit seiner Frau konfrontiert wird, sorgt sich lediglich um seine Karriere und fürchtet den Skandal. Ansonsten bestätigen sich beide in ihrer Opferrolle und kommen zu dem Schluss: „Jeder hat das Recht, den Krieg zu vergessen… die Zeit wusch alles fort…“ Dem stellt die Oper ein kräftiges Nein entgegen, wobei deutlich wird, dass es nicht 'nur' um das Gedenken an die Opfer geht, sondern auch um uns, denn: „Wenn das Echo eurer Stimmen verhallt, gehen wir zugrunde.“ Die gelungene Gelsenkirchener Inszenierung setzt einen ausdrucksstarken Kontrapunkt gegen das Vergessen, was angesichts der aktuellen Entwicklungen und der Tatsache, dass es immer weniger Augenzeugen gibt, wichtiger ist denn je. Zum Abschluss stand Zofia Posmysz selbst mit allen Beteiligten auf der Bühne und empfing Standing Ovations. Wer weiß, wie oft ihr und uns das noch vergönnt ist.
Bei soviel aktueller Brisanz tritt die Musik fast in den Hintergrund, dabei trägt sie wesentlich zum Gelingen der heiklen Mission bei. Weinberg, der von Schostakowitsch beeinflusst und gefördert wurde, schreibt eine zugängliche, wirkungsvolle Musik. Dabei entsteht trotz Anleihen an jüdische und russische Volksmusik, klassische Motive sowie Marsch-, Walzer- oder Jazzrhythmen kein polystilistisches Beliebigkeitspotpourri, da die Bezugnahmen stets inhaltlich motiviert sind. Schlüsselmomente werden eindrucksvoll gestaltet, so z. B. wenn bei der ersten Begegnung der beiden Protagonistinnen ein leises Pochen langsam bedrohliche Ausmaße annimmt. Im zweiten Akt wird die Musik unmittelbar in das Operngeschehen einbezogen. Martas Verlobter Tadeusz soll für den Lagerkommandanten dessen Lieblingswalzer spielen, konfrontiert ihn jedoch stattdessen mit einer Chaconne von Bach, wohl wissend, dass er damit sein längst gefälltes Todesurteil endgültig besiegelt. Umgekehrt erklingt jener Lieblingswalzer auf Initiative der Passagierin bei der Tanzsoiree auf dem Schiff und macht so den letzten Versuch, sich der Vergangenheit zu entziehen, zunichte. Bemerkenswert sind auch die Chorpassagen, die in Gelsenkirchen aus dem Dunkel der oberen Ränge erklingen, und als Stimmen der Ermordeten Lisa immer wieder bedrängen. Die Neue Philharmonie Westfalen unter der Leitung von Valtteri Rauhalammi, der Opernchor des MIR sowie sämtliche Solisten sorgen für eine gelungene musikalische Umsetzung, die man noch bis April erleben kann.
[Schönes Wochenende in Düsseldorf]
Wie in den Vorjahren läutete die Tonhalle das neue Jahr mit einem schönen Wochenende der zeitgenössischen Musik ein, das vom 3. bis 5.2. unter dem Motto 'Music, Mix, Mashup' die verschiedensten Formen des Zitierens und Mixens unter besonderer Berücksichtigung neuer technischer Möglichkeiten ins Visier nahm. Zur Erkundung dieses Terrains hatten sich die Kuratoren des Festivals Uwe Sommer-Sorgente und Beate Schüler mit der Musikfabrik, dem PianoDuo GrauSchumacher, dem Decoder Ensemble, dem PUNKT Ensemble u.a. namhafte Unterstützung geholt. Neu war die Kooperation mit dem NRW-Forum, das im Rahmen des Düsseldorfer Photo Weekends sowieso im Fokus stand, so dass auf diese Weise neues und vor allem junges Publikum erreicht werden konnte. Zum Auftakt präsentierten Solisten der Musikfabrik in den Ausstellungsräumen des Forums auf gewohnt souveräne Weise zeitgenössische Solowerke - von Gervasoni über Haas bis Zorn ergänzt durch Bachs erste Cellosuite. Der eigentliche Clou war jedoch der anschließende Live-Remix durch das norwegische Punkt Ensemble. Für das Live-Sampling sorgten Jan Bang und Erik Honoré, während der Perkussionist Audun Kleive mit entsprechendem elektronischen Equipment dem Ganzen rhythmischen Drive verpasste. Behutsam tasteten sie sich vor und erzeugten einen brodelnden Grundklang, in dem mal Bachsche Cellofragmente, mal Scott Fields scharfkantige Gitarrenriffs aufblitzten. Leben eingehaucht wurde dem Geschehen jedoch von der Sängerin Sidsel Endresen, die sich mit ihrer markanten Stimme in überbordenden Wortkaskaden verlor, manchmal aber auch nur einzelne Laut-, Atem- oder Geräuschfetzen einstreute. Sie entwickelte eine enorme Präsenz, so dass eine traumwandlerische Stimmung entstand, in der Phasen der Ruhe sich mit dichten REM-Episoden abwechselten.
Ebenfalls im NRW-Forum spielte das Hamburger Ensemble Decoder, das sich als 'Band für aktuelle Musik' versteht, energetische Sounds und multimediale Projekte liebt und u.a. die Komponisten Alexander Schubert und Leopold Hurt zu seinen Mitgliedern zählt. Mit viel Equipment boten sie einen abwechslungsreichen Einblick in ihr Schaffen, allerdings dringt der unbedingte Wille, mit 'aller Kraft dem Stigma des Freudlos-Stacheligen' zu entkommen, aus allen Poren. Theatrale Gestik wie in Matthew Shlomowitz' Letter Piece no. 5 oder spaßig-skurrile Videozuspielungen wie in Schuberts HELLO sollen das Publikum bei der Stange halten, die musikalische Ebene gerät dabei jedoch ins Hintertreffen. In Marko Cicilianis Black Horizon entlocken vier Performer zwei liegenden E-Gitarren nicht enden wollende diffus-wolkige Klänge und harmloses Geräuschgewusel, im günstigsten Fall entstehen - wie in Brigitta Muntendorfs play me back and forth – schrill-chaotische Eskapaden, aber auch das hat man schon packender erlebt. Am besten gefiel mir der Schlagzeuger Jonathan Shapiro, der sich in Sarah Nemtsovs drummed variations für (kein) Schlagzeug und Kaoss-Pad äußerst virtuos an Plastikeimern, Getränkekisten und Pappkartons abarbeitete – ebenfalls nichts neues.
Ganz am Puls der Zeit zeigte sich Martin Tchiba mit seinem WIReless-Projekt, bei dem er versucht, alles auszuschöpfen, was das weltweite Netz zu bieten hat. Über Facebook und Twitter konnten sich im Vorfeld Komponisten und Schulklassen mit maximal einminütigen Klavierminiaturen beteiligen, die Tchiba live zu einer Gesamtheit formte. Gleichzeitig durfte das Publikum über verschiedene Module abstimmen, Kommentare abgeben, Bilder posten oder Adjektive versenden, die Tchiba live vertonte. Aus Albuquerque war Gabriel Gonzalez zugeschaltet, der eine Instant-Komposition beisteuerte, die taufrisch zur Uraufführung kam, und an einer Stelle konnten die Anwesenden kollektiv ihre Smartphones zum Klingen bringen. Vor allem für die Beteiligten hat das Spiel mit den Möglichkeiten sicherlich seinen Reiz, was man zu hören bekam, waren letztlich jedoch mehr oder weniger gelungene Pianopetitessen, die man mit Papier und Bleistift auch zu Wege gebracht hätte.
Vor Tchiba stand das PianoDuo Andreas Grau und Götz Schumacher auf der Bühne der Tonhalle. Die beiden bürgen für Qualität, allerdings habe ich sie schon mit überzeugenderen Programmen erlebt. Neben Wagners Tristanvorspiel und Ravels Bolero hatten sie Michael Beils Doppel für zwei Flügel mit Live-Audio und Live-Video im Gepäck. Beils Konzept, Musiker auf der Leinwand zu vervielfältigen und dadurch vielschichtige akustische und visuelle Bezüge herzustellen, ist zwar immer wieder wirkungsvoll aber inzwischen schon ziemlich ausgereizt. Brigitta Muntendorf befasst sich in Key of presence mit der Vergänglichkeit der Musik und dem Phänomen des Nachklangs. Die Musiker lösen durch ihr Spiel sowie durch Körpersensoren Resonanzen aus, die live-elektronisch weiterverarbeitet werden, aber das Ergebnis wirkt zu brachial und aufdringlich und wird dominiert von knarzigem Elektrosound und scheppernden Störgeräusche.
Dass Mix und Mashup keine ganz neuen Erfindungen sind und auch ohne Internet und Elektronik funktionieren, demonstrierten die Düsseldorfer Symphoniker im Abschlusskonzert, in dem sie unter der Leitung von Jonathan Stockhammer Dimitri Schostakowitschs Symphonie Nr. 15 aus dem Jahr 1971 Michael Gordons Rewriting Beethoven's Seventh Symphony aus dem Jahre 2006 gegenüber stellten. Schostakowitschs letzte Sinfonie ist bekannt durch den überbordenden Einsatz tatsächlicher und scheinbarer Zitate, doch was bei ihm ironisch bis wehmütig erscheint, wird bei Gordon zum reinen Selbstzweck. Er stürzt sich auf Beethovens plakativste Momente, treibt sie effekthascherisch auf die Spitze und reizt sie aus bis zur Erschöpfung. Nicht raffinierte Durchdringung sondern schiere Überwältigung ist das Ziel.
Fazit: Das Motto 'Music, Mix, Mashup' ist zwar nicht mehr taufrisch, aber immer noch aktuell und wurde von verschiedenen Seiten mit bewährtem Personal und neuen Akteuren beleuchtet. Der musikalische Output hat mich allerdings nicht überzeugt, was verschiedene Gründe haben kann. Spontan fallen mir die folgenden ein:
1. Die Protagonisten stecken noch in der Experimentierphase, vor allem die neue Technik will erst mal beherrscht werden. Von den ersten steinzeitlichen Knochenflöten bis zur Wiener Klassik sind zehntausende von Jahren ins Land gegangen, da darf man jetzt nicht innerhalb von ein paar Jahrzehnten ästhetische Wunderdinge erwarten – zumal sich die Technik ständig weiterentwickelt und die armen Künstler zwangsläufig hinterherhinken.
2. In Zeiten von Multimedia, Konzeptmusik, digitaler Revolution usw. spielt die Musik nicht mehr die erste Geige. Irgendwo wurde sogar schon eine Ära des Anästhetischen (nicht zu verwechseln mit Anästhesie) ausgerufen. Die Erkundung des Klangmaterials hat sich erschöpft, von da ist definitiv nichts Neues zu erwarten. Wer nicht ewig im alten Süppchen rühren will, muss sich von der sklavischen Fixierung auf die musikalisch-akustische Ebene verabschieden.
3. Meine Hörgewohnheiten sind schlichtweg veraltet – sozusagen von gestern, wenn nicht von vorgestern. Da ich zu träge bin, mir ständig die neuesten Youtube-Videos und Blogs reinzuziehen, ist es kein Wunder, dass ich den Anschluss verpasst habe. Jetzt fehlt es nur noch, dass ich mich in eine alte Nörglerin verwandle, die an allem Neuen etwas auszusetzen hat und den Jungen ihren Spaß nicht gönnt.
4. Schuld ist mal wieder Düsseldorf. Die Stadt bleibt allen Anstrengungen zum Trotz provinziell – in jeder Hinsicht, vor allem aber im Bereich Musik. Zur Startposition reicht es nur bei der Tour de France, denn die ist für Geld zu haben.
Welcher Grund der plausibelste ist oder ob ich eventuell etwas übersehen habe, mag jeder für sich entscheiden. Dass wir das Ende der Musik als akustisches Phänomen einläuten müssen, glaube ich aber nicht. Totgesagte leben länger, auch die Malerei wurde zu den Hochzeiten der Konzept- und Performancekunst für obsolet erklärt, existiert aber immer noch.
[Oehrings AscheMond in Wuppertal]
Das Mixen und Zitieren hat Helmut Oehring schon längst für sich entdeckt. In seiner Oper AscheMOND oder The Fairy Queen bedient er sich reichlich bei Henri Purcell und auch das Libretto von Stefanie Wördermann zitiert sich von Shakespeare über Heine bis Stifter quer durch die Literaturgeschichte. Nach der Berliner Uraufführung 2013 kam das Werk jetzt ans Wuppertaler Opernhaus, was aufgrund diverser Streichungen und Ergänzungen als Teil-Uraufführung angekündigt wurde. Das Ergebnis erinnert an Oehrings Wagneroper SehnSuchtMEER, die ebenfalls 2013 an der Düsseldorfer Rheinoper aus der Taufe gehoben wurde und mich damals wenig begeisterte (s. Besprechung Gazette April 2013). Purcells Musik, für die in Wuppertal neben hervorragenden Gesangssolisten ein spezielles Barockensemble aufgeboten wurde, zieht in ihren Bann, leuchtet auf und lässt die Zeit still stehen, während Oehrings Komposition keine eigene Substanz entfaltet. Das Sinfonieorchester Wuppertal unter Leitung von Jonathan Stockhammer, ein elektronisch verstärktes Duo aus Kontrabass und Gitarre sowie diverse Zuspielungen entfalten eine diffuse Geräuschkulisse, die immer wieder den Purcellschen Wohlklang unterwandert und benagt, aber die Fallhöhe – ein Begriff, den Oehring in der Einführung selbst ins Spiel brachte – ist einfach zu groß, so dass seine Musik erst recht blass und richtungslos wirkt. Da es auch auf inhaltlicher Ebene keinen roten Faden gibt, lag die Verantwortung für die Gestaltung des Abends vor allem beim Regisseur Immo Karaman und seinem Team. Als erzählerische Säule verwendet er Stifters Bericht von einer Sonnenfinsternis, ein Topos, der sich auch in der Szenenfolge abbildet (Prolog, Überlagerung/Sommer, Verdeckung/Herbst, Auslöschung/Winter, Epilog) und das Bühnenbild inspirierte. Die Sonnenfinsternis steht für ein kosmisches Ereignis, das die Naturgesetze gleichzeitig zu bestätigen und außer Kraft zu setzen scheint und dem der Mensch ohnmächtig ausgeliefert ist. Dessen Verstrickungen, sein Aufbegehren, Ringen und Scheitern entfaltet Karaman in einem 'Kaleidoskop menschlicher Begegnungen', das er im ersten Bild in einen angestaubten Wartesaal, einen typischen Transitraum, versetzt. Eine riesige Uhr veranschaulicht das unerbittliche Verrinnen der Zeit, während Personen in beigem Trenchcoat kommen und gehen, sich in grotesken Handlungen ergehen, sich begegnen und doch nicht zusammenfinden. Die traum- manchmal alptraumhafte Atmosphäre verdichtet sich und auch der Raum nimmt immer surrealere Züge an. Im zweiten Bild driftet die Uhr in den Hintergrund, zurück bleibt ein klaffendes Loch, das den Raum ins Unendlich-Unbekannte öffnet. Zum Schluss entschwindet alles Vertraute, die Szenerie verwandelt sich in ein schwarzes Nirgendwo, in dem die Personen wie Schatten ihrer selbst ziellos umherirren. Auf diese Weise gelingen Karaman Bilder, die angesiedelt zwischen drohender Katastrophe und Ereignislosigkeit, zwischen Aktionismus und Schockstarre auch unsere gegenwärtige gesellschaftliche Stimmung widerspiegeln. Für einen wirklich gelungenen Abend bedürfte es jedoch einer musikalischen Begleitung, die mehr als nur Versatzstücke liefert. Oehring jedoch zitiert nicht nur andere sondern auch sich selbst, indem er mit Kassandra Wedel einmal mehr eine taubstumme Gebärdensolistin einbindet. Ihre körperliche Präsenz, ihre sprechende Gestik und ihr Ringen um stimmlichen Ausdruck berühren und drohen doch in Oehrings Händen zum durch inflationären Gebrauch abgenutzten Effekt zu gerinnen.
Auch wenn der Abend mich nicht ganz überzeugt hat, verdient der geballte Einsatz des Wuppertaler Opernhauses volle Anerkennung. Nach Steve Reichs Video-Oper Three Tales war dies bereits die zweite Auseinandersetzung mit einem zeitgenössischen Werk in dieser Spielzeit. Wuppertal ist wieder da!
[Termine im März]
Köln
Am 1.3. ist Mahan Esfahani mit Mitgliedern des Ensemble Modern in der Philharmonie zu Gast, am 5.3. dirigiert Matthias Pintscher u.a. ein eigenes Werk und am 15.3. wird ein neues Stück von Kimmo Pohjonen mit ihm am Akkordeon aus der Taufe gehoben. Die Musikfabrik lädt am 6.3. zum Montagskonzert und ist am 19.3. mit Werken von Berio und Globokar im WDR-Funkhaus zu erleben. Dort findet am 4.3. auch das nächste 'Musik der Zeit'-Konzert statt – ebenfalls mir Musik von Berio sowie von Morton Feldman und Johannes Boris Borowski. Beim Deutschlandfunk kommt am 11.3. die Hörspielperformance In darkness let me dwell mit antarktischen Unterwasseraufnahmen und Livemusik zur Aufführung und am 5.3. hat im Staatenhaus, dem Ausweichquartier der Oper, Johannes Maria Stauds Oper Die Antilope nach einem Text von Durs Grünbein Premiere. Die reiheM beschäftigt sich am 5.3. in einem Seminar und anschließendem Konzert in der Alten Feuerwache mit Maryanne Amacher. Dort findet außerdem am 9.3. eine Konzertperformance zu György Kurtágs Kafka Fragmenten und am 19.3. ein Konzert mit zehn Kontrabassisten statt. Die Kunststation Sankt Peter präsentiert neben den Lunchkonzerten am 4., 11., 18. und 25.3. einen Aschermittwoch der Künstler am 1.3., die Orgelimprovisationen am 5.3. und die Veranstaltung NachtRaumStille am 19.3.. ON – Neue Musik Köln bietet am 3. und 4.3. in der Orangerie die Parabel Der ertrunkene Riese in einer poetischen Inszenierung für Projektionstheater, Schauspiel und Musik und beim nächsten Chamber Remix am 5.3. treffen Niklas Seidl & Albrecht Maurer auf Bernd Keul. Ein reichhaltiges Konzertprogramm findet im Stadtgarten (z.B. Impakt : Kontrast mit Evan Parker & Rotozaza am 1.3. und Avantgardesongs für 4 Stimmen und Orchester am 13.3.) und im Loft statt (z.b. Soundtrip NRW am 1.3., ein kgnm-Konzert zwischen Orient und Okzident mit dem Trio Radial am 10.3., Hayden Chisholm vom 16. bis 18.3. und Sonic Art Lab III mit elektronischen und akustischen Verschränkungen am 31.3. und 1.4.)
Weitere Termine wie üblich bei musik-in-koeln.de und kgnm (z.B. die Plattform dokumentierbarer Ereignisse am 15.3. und 31.3. oder ein Cello-Recital mit Friedrich Gauwerky am 30.3.)
Ruhrgebiet
Im Dortmunder Konzerthaus erklingt am 9.3. Arvo Pärts Fratres und am 11.3. kommen bei einem mehrteiligen Kammerkonzert mit 'Rising Stars' u.a. Werke von Mikel Urquiza, Marko Nikodijevic und Kimmo Hakola zur Aufführung. Das nächste Lautsprecherkonzert für Klangkunst, Hörspiel und seltene Musik im Depot befasst sich am 12.3. mit Raumvorstellungen.
In der Essener Philharmonie interpretieren Martin Grubinger und die BBC Philharmonic am 12.3. Werke von Tan Dun und Peter Eötvös und wer sich für improvisierte Musik interessiert, wird bei JOE Jazz Offensive Essen fündig. Neben Betonmusik mit dem Duo Pranke am 1.3. und Soundtrips NRW am 8.3. stehen eine Reihe von Sessions auf dem Programm.
Beim Sonntagskonzert am 19.3. im Gelsenkirchener MIR spielt die Neue Philharmonie Westfalen Zoom and Zip für Streichorchester von Elena Kats-Chernin und Native tongues für Flöte und Streichorchester von Randall Woolf und am 25.3. hat der Ballettabend The Vital Unrest zu Musik des lettischen Komponisten Georgs Pelecis Premiere.
Düsseldorf
Beim nächsten Salon Neue Musik am 3.3. im Klangraum 61 sind Irene Kurka und Othello Liesmann zu Gast. In der Tonhalle stehen das Oboenkonzerte des jungen französisch-libanesischen Komponist Benjamin Attahir am 4.3. und The Chairman Dances von John Adams am 25.3. auf dem Programm und am 19.3. erklingt im Palais Wittgenstein Musik von Isang Yun und Oskar Gottlieb Blarr. Im zakk findet am 26.3. eine Lesung des Briefwechsels zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze mit Klavierbegleitung statt.
Sonstwo
Soundtrips NRW schickt vom 1. bis 8.3. den norwegischen Posaunisten Henrik Munkeby Nørstebø mit wechselnden Gästen nach Köln, Düsseldorf, Duisburg, Bochum, Münster, Bonn, Wuppertal und Essen.
Die Reihe 'Hören & Sprechen über Neue Musik' der Aachener Klangbrücke befasst sich am 3.3. mit Stefan Prins' Werk Generation Kill und am 31.1. folgt ein Konzert für Bandoneón und Gitarre.
Im Zentrum des nächsten Jour fixe der Bielefelder cooperativa neue musik am 6.3. steht der iranische Komponist Arsalan Abedian.
Der Bonner Wortklangraum geht am 1.3. mit Werken von Martin Christoph Redel, Berio, Bartók und Hindemith in die nächste Runde und im Klavierhaus Klavins treffen am 3.3. Martin Blume, Simon Nabatov, Matthias Schubert, Eckard Vossas und Scott Fields aufeinander. Am 4.3. wird ebendort der 3. Band der Notenedition 250 piano pieces for Beethoven veröffentlicht. Dem von Susanne Kessel initiierten und organisierten Projekt liegt die Idee einer „musikalischen Gedankensammlung” zeitgenössischer, kurzer Klavierstücke zu Ehren Beethovens zugrunde. Bis zu dessen 250. Geburtstag im Jahre 2020 sollen 250 Werke zusammenkommen! Im Kunstmuseum wird am 8.3. der/die Preisträger/in des Europäischen Studentenwettbewerb für installative Klangkunst bekanntgegeben und vorgestellt.
Im Theater Hagen hat am 18.3. Tschik, eine Oper von Ludger Vollmer nach dem gleichnamigen Roman von Wolfgang Herrndorf, Premiere.
Am 26.3. spielt der iranische Cembalist Mahan Esfahani in der Scheune der Neusser Museumsinsel Hombroich Kompositionen von Henry Cowell, Thomas Tomkins, Giles Farnaby, Johann Sebastian Bach und Philip Glass.
Im Wuppertaler Skulpturenpark Waldfrieden wird am 4.3. die Reihe 'Tonleiter' mit Musik für zwei Klaviere fortgesetzt und das Wuppertaler Sinfonieorchester interpretiert in seinem 7. Sinfoniekonzert am 12. und 13.3. The Wave Impressions von Keiko Abe in der Version für Schlagzeug-Ensemble und Orchester. Im ort macht am 4. und 6.3. das europäische Vibraphon-Festival Spring Vibes Station. Außerdem stehen Konzerte mit dem ort workshop ensemble am 5.3., Soundtrip NRW mit Henrik Munkeby Nørstebø und Gästen am 7.3., das Silke Eberhard Trio am 15.3. sowie konzertierte Erzählkunst am 19.3. auf dem Programm. Weitere Termine mit improvisierter Musik finden sich bei Jazzage z.B. die Reihe 'unerhört' am 3.3. und das Nachtfoyer mit Dieter Manderscheid und Sebastian Sternal am 4.3.
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