Gazette: Neue Musik in NRW - Ausgabe April 2017
Gewesen: Ligetis Le Grand Macabre in Dortmund und Essen - Stauds Antilope in Köln – Musikfabrik mit Globokar-Uraufführung
Angekündigt: ort festival 'Portugal' – Forum neuer Musik beim DLF – Achtbrücken-Festival in Köln – ingolf zieht aus und macht Freunde u v a.m.
(möchten Sie diese Gazette monatlich neu per e-mail erhalten?
Dann senden Sie bitte eine mail an redaktion-nrw@kulturserver.de mit dem Betreff: Neue Musik oder tragen Sie sich hier ein: http://lists.kulturserver-nrw.de/cgi-bin…info/neue-musik)
[Le Grand Macabre in Dortmund und Essen]
Allen, die sich nicht ins Karnevalsgetümmel stürzen wollten, aber trotzdem Spaß am Verrückten und Skurrilen haben, machten die Konzerthäuser in Essen und Dortmund ein ganz besonderes Geschenk: Vom 23. bis 26.2. kamen die Berliner Philharmoniker unter Leitung von Simon Rattle zur Ruhrresidenz nach NRW. Im Gepäck: György Ligetis Musiktheater Le Grand Macabre, das am 23.2. im Dortmunder Konzerthaus und am 25.2. in der Essener Philharmonie zu erleben war. Es ist gerade einmal zwei Jahre her, dass das groteske Geschehen rund um einen verpatzten Weltuntergang im Essener Aalto Theater in einer kunterbunten Inszenierung von Mariame Clément auf die Bühne kam (s. Gazette März 2015). Angepasst an die Verhältnisse eines Konzertsaales musste man sich diesmal bescheiden, weshalb die Inszenierung von Peter Sellars als halbszenische Aufführung angekündigt wurde. Das hatte aber nicht nur Nachteile, denn die Musik kam dadurch in besonderem Maße zur Geltung und wurde zum Hauptakteur des Abends. In dem 1978 für die Königlich Schwedische Nationaloper in Stockholm komponierten Werk, das er 1996 noch einmal überarbeitete, zieht Ligeti alle Register. Zum Auftakt erklingt eine Autohupentoccata, scharf und schön, bitter und blumig geht es weiter. Mal verfängt sich ein Liebespaar in herzzerreißenden Liebesschwüren, mal kündigen sich überschlagende Bläserkaskaden die Apokalypse an, Audrey Luna als Chef der Geheimpolizei versteigt sich in halsbrecherische Koloraturen und Anthony Roth Costanzo lässt mit seiner Countertenorstimme den Fürsten Gogo hilflos-fragil am seidenen Faden zappeln. Die Musiker müssen sich diesmal nicht im Orchestergraben eines Opernhauses verstecken und ihre optische Präsenz trägt zusammen mit der brillanten Akustik dazu bei, dass kein Ton verloren geht. Chor und Instrumentalsolisten sind teilweise auf den oberen und hinteren Rängen platziert und erzeugen einen Surroundklang, der den ganzen Raum pulsieren lässt. Im Vergleich zu dieser klanglichen Opulenz wirkt Sellars Regieansatz recht eindimensional. Anknüpfend an seine Salzburger Inszenierung von 1997 versetzt er das Geschehen ins Nuklearzeitalter, womit klar wird, dass heutige Katastrophen hausgemacht sind. Auf der Bühne stapeln sich Fässer mit Atommüll und die Sänger erscheinen in Forscherkittel oder Schutzanzug. Auf großer Leinwand können wir das atomare Wettrüsten nachvollziehen und beim Schlusschoral einer vor einem Atomkraftwerk schwanzwedelnden Kuh in den Hintern schauen. Die stärksten Bilder entstehen, wenn die Protagonisten live in riesenhafter Vergrößerung ins Bild rücken – das üppige Dekolletee der sexsüchtigen Mescalina (Heidi Melton) wirkt fast bedrohlicher als die sich dekorativ ausbreitenden Atompilze. Der Rest bleibt etwas steril, doch das entspricht in gewisser Weise der heutigen Zeit. Unsere Ekstasen sind genormte und weichgespülte Events, unsere Potentaten mickrige, selbstverliebte Hanswürste – was sie leider nicht weniger gefährlich macht. Die korrupten Politiker und manipulierbaren Volksmassen kommen uns mehr als bekannt vor, aber die Lust am Chaos, die bei Ligeti aus jeder Note und jeder Zeile dringt, ist einer lähmenden Angst und Lethargie gewichen, die sich womöglich als gefährlicher erweisen wird als alle auf uns einstürmenden Widrigkeiten.
[Stauds Antilope in Köln]
Auch in Johannes Maria Stauds Oper Die Antilope, die am 5.3. an der Kölner Oper ihre deutsche Erstaufführung erlebte, geht es recht turbulent und skurril zu. Zwar ist (noch) kein Weltuntergang zu befürchten, dafür werden sämtliche Kalamitäten abgehandelt, mit denen sich Menschen im 21. Jahrhundert tagtäglich herumschlagen müssen: Identitäts- und Sinnkrisen, Gruppenzwang, Ausgrenzung, Mobbing, Sprachbarrieren, frustrierendes Singledasein, Missbrauch von Tieren, Vernachlässigung von Kindern, moderne Kunst – praktisch das ganze Programm. Das Libretto stammt aus der Feder von Durs Grünbein, mit dem Staud bereits bei seiner ersten Oper Berenice zusammengearbeitet hat und mit dem er aktuell Die Weiden, ein neues Werk für die Wiener Staatsoper, konzipiert. Doch dass es sich dabei um den Träger des Huchel-, Büchner-, Nietzsche-, Hölderlin- und Pasolini-Preises handelt, merkt man leider in keiner Zeile. Wenn Grünbein seinen Protagonisten Victor nicht gerade in der Phantasiesprache Antilopisch schwadronieren lässt (Kaama damara dik sitatunga inkubo songo afar kudu), versucht er auf geradezu peinliche Weise, dem Volk aufs Maul zu schauen, indem er Marketingkauderwelsch und Beziehungsgeschwafel à la Reality-TV parodiert. Dazwischen lauern lyrische Ergüsse, die ihrerseits wie eine Persiflage wirken. Besagter Victor befindet sich zu Beginn der Oper auf einer Firmenfeier, deren Zumutungen er sich durch einen beherzten Sprung aus dem Fenster entzieht. Doch statt auf dem Pflaster zu zerschellen, begibt er sich auf eine seltsame Odyssee durch die Niederungen der Gesellschaft. Er wird Zeuge postkoitaler Verwerfungen, trifft im Cafe Traumzeit auf gestrandete Seelen, muss sich von sadistischen Ärzten taxieren lassen, wird im Zoo von einem Wachmann am Einswerden mit dem Kreatürlichen gehindert und zum Schluss auch noch mit abstrakter Kunst konfrontiert. Das Ärgerliche ist, dass man bei aller Absurdität ständig spürt, was der Dichter uns gerade sagen will. Anstatt sich wie Ligeti dem Grotesken lustvoll hinzugeben, wird es instrumentalisiert und pädagogisch aufbereitet. Diesem biederen Ansatz entspricht leider auch Stauds musikalische Herangehensweise. Der Schüler von Michael Jarrell und Hanspeter Kyburz setzt auf eine avancierte Klangsprache und hat sich offenbar viel mit Mikrotonalität, Instrumentation, Einbindung von Elektronik usw. befasst. Aus einigen Passagen hätte man durchaus ein passables Instrumentalstück destillieren können. Dem selbstgesetzten Anspruch, ein 'Sich-Durchdringen von tragischen und komischen Elementen' zu erreichen, wird die Musik jedoch an keiner Stelle gerecht, da sie brav und unverbindlich um sich selbst kreist. Immerhin sorgt die Inszenierung von Dominique Mentha in einem Bühnenbild von Werner Hutterli und Ingrid Erb für einige Hingucker. Gleich zum Auftakt stattet er die Firmenbelegschaft mit übergroßen Tierköpfen aus und verleiht den Figuren damit eine groteske Bedrohlichkeit. Ansonsten verzichtet er auf überflüssige Requisiten und setzt auf eine pointierte, bewusst überzeichnete Personenführung. Doch letztlich ist Die Antilope nicht zu retten, was schon bei ihrer Uraufführung 2014 in Luzern klar gewesen sein muss. Anstatt sich an einer zum Scheitern verurteilten deutschen Wiederbelebung zu versuchen, hätte die Kölner Oper besser daran getan, nach neuem Material Ausschau zu halten.
[Musikfabrik mit Globokar-Uraufführung]
Was macht eigentlich Vinko Globokar? Komponiert er noch? Eine Antwort lieferte am 19.3. das 61. WDR-Konzert der Musikfabrik, bei dem neben älteren Werken von Luciano Berio Globokars Kaleidoskop im Nebel aus den Jahren 2012/13 sowie Les Soliloques décortiqués als Uraufführung auf dem Programm standen. Der 1934 geborene Globokar ist ein Urgestein der neuen Musik und hat sowohl als Posaunist als auch als Komponist Akzente gesetzt, voller Phantasie und Energie und mit viel Lust am Experimentellen, Spielerischen und Theatralen. Auch sein neuestes Werk ist mehr als nur Musik, es ist Inszenierung. Zum Auftakt treten die Musiker nacheinander auf und verbeugen sich einzeln vorm Publikum, bevor sie ans Werk gehen. Der auf- und abbrandende Applaus mischt sich mit den ersten Klängen und wird Teil des Geschehens. Im weiteren Verlauf kommen neben unorthodoxen Spielweisen auch alle möglichen Geräuschemacher zum Einsatz. Es trötet, quäkt und jault, Wasser blubbert, Stimmen mischen sich ein. Zwischen den teils erheblichen Turbulenzen sorgen die im Titel angekündigten Soli für Ruhepunkte, die sich eine Zeit lang entfalten und dann vom Ensemble eingekreist und verschluckt werden. Auch Kaleidoskop im Nebel lebt von theatralen Elementen und dem hohen Energieniveau mit Lust an chaotischer Zuspitzung. Die Musiker verlassen ihre Plätze, orientieren sich neu und finden sich zu kleinen Gruppen, die unmittelbar aufeinander reagieren. Bei soviel Eigenständigkeit wirft der Dirigent schließlich das Handtuch und geht vorzeitig von Bord. Das wirkt wie eine antiautoritäre Geste aus den 70ern und auch sonst erscheint vieles wie eine Reminiszenz an gute, alte Zeiten, so dass trotz spielfreudigem Einsatz aller Beteiligten vor allem nostalgische Gefühle aufkommen.
Konzerte im April
Köln
Das nächst Forum neuer Musik im Deutschlandfunk steht vom 7. bis 9.4. unter dem Motto Im Anthropozän. Neben Lectures und Lesungen stehen dabei mit Friedrich Schenkers Missa nigra und Malin Bångs Kudzu / The 6th Phase zwei musiktheatrale Abende im Zentrum. Eingebunden sind am 8.4. ein Lunchkonzert und am 9.4. ein Orgelkonzert in der Kunststation Sankt Peter. Außerdem kann man dort weitere Lunchkonzerte am 1. und 29.4., Orgelimprovisationen am 2.4. sowie eine Klanginstallation zur Osternacht am 15.4. erleben.
Das Achtbrücken-Festival erforscht vom 28.4. bis 7.5. mit rund 50 Veranstaltungen unter dem Motto 'Ton. Satz. Laut.' die komplexe Beziehung zwischen Musik und Sprache. Zum Auftakt wird am 28.4. der Lanxess Tower vom Vorplatz bis in die 19. Etage musikalisch erkundet (u.a. mit dem Studio Musikfabrik) und am 1.5. gibt es wie üblich einen ganzen Tag Musik bei freiem Eintritt. Als Composer-in-Residence kann man diesmal die koreanische Komponistin Unsuk Chin entdecken. Einer der Hauptaustragungsorte ist wie üblich die Philharmonie (bei Hosokawas Umarmung am 30.4. kommt endlich einmal die Orgel zum Einsatz), doch auch vor dem Festival gibt es hier zeitgenössische Klänge zu hören. Am 1.4. stehen Bernhard Krol, Jan Koetsier und Kerry Turner, am 2.4. Berios Coro, am 9.4. Oliver Knussen, am 21.4. Isang Yun und am 26.4. Schnittkes 3. Streichquartett mit dem Asasello Quartett auf dem Programm.
Am 3.4. lädt die Musikfabrik zum Montagskonzert, Im Zentrum Lied veranstaltet am 26.4. eine Entdeckungsreise zu Karol Szymanowski, das Klanglabor der Kunsthochschule für Medien hat am 27.4. die Performerin Rie Nakajima zu Gast und die reiheM präsentiert am 29.4. G*Park alias Marc Zeier und Eric Cordier im Stadtgarten. Dort beschallen Hayden Chisholm, Markus Stockhausen u.a. am 14.4. den Karfreitag und am 21.4. stellen Holger Mertin, Koko Eberli und Marco Riedli The Immersive Project vor. Im Loft bietet das Sonic Art Lab am 31.3. und 1.4. elektronische und akustische Verschränkungen, am 12.4. wird die niederländische Sängerin Annelie Koning erwartet und die 'Plattform Undokumentierbarer Ereignisse' hat am 27.4. das Trio TAndEm zu Gast. Eine weitere 'Plattform Undokumentierbarer Ereignisse' findet bereits am 9.4. im Atelier Dürrenfeld/Geitel statt. Dieser sowie weitere Konzerttermine wie üblich bei kgnm und musik-in-koeln.de.
Ruhrgebiet
Im Dortmunder Konzerthaus steht Musik von Henri Dutilleux am 4. und 5.4. und von Fedele, Harvey und Kurtág am 8.4. auf dem Programm und am 19.4. ist Murnaus Faust mit Live-Orchestermusik zu erleben. Am 23.4. hat im Theater Dortmund Philip Glass' Einstein on the Beach Premiere.
Am 7.4. präsentiert Marin Wistinghausen in der Duisburger Kirche Sankt Peter neue Musik für Bassstimme und der Earport veranstaltet am 23.4. ein Konzert mit dem Crush Ensemble zur Vernissage der Ausstellung Best Friends.
In der Essener Philharmonie interpretieren die Schwestern Labèque am 1.4. Musik von Bryce Dessner, Philip Glass u.a. und am 30.4. spielt das Trio Catch das Werk Catch von Thomas Adès. Die Gesellschaft für Neue Musik Ruhr präsentiert am 6.4. das Büro für akustische Innenraumpflege mit Musik u.a. von Gordon Kampe, Fabien Lévy und Steve Reich und am 7.4. das Ensemble S 201 mit klingenden Extremen. Informationen zu Jazzmusik liefert die Jazz Offensive Essen (z.B. Betonmusik mit dem Johannes Haage Trio am 5.4.). In der Folkwang Hochschule finden am 20. und 27.4. ExMachina Werkstätten und am 21.4. ein Konzert mit dem Trialog Ensemble S 201 statt.
Im Gelsenkirchener MIR geht ingolf, die aktuelle Produktion des Fonds Experimentelles Musiktheaters, in die nächste Runde. Am 21.4. zieht ingolf aus und am 28. und 29.4. sowie vom 2. bis 6.4. macht ingolf Freunde.
Düsseldorf
Beim Kammermusikfest Chamberjam erklingt in der Johanneskirche vom 15. bis 17.4. Musik von Kancheli, Pärt, Vasks, Schnittke, Berio und Osvaldo Golijov.
Sonstwo
In der Reihe Hören & Sprechen über neue Musik der Aachener Klangbrücke wird am 7.4. ein Wäschekorb mit Musik ausgepackt und am 30.4. dreht sich alles um den Aachener Komponisten Anno Schreier.
Beim nächsten Jour fixe präsentiert die Bielefelder cooperativa neue musik am 3.4. den ersten Conradisischen Abend und die Initiative Neue Musik in Ostwestfalen-Lippe kündigt für den 9.4. in der Zionskirche ein Orgelkonzert mit Musik von D. Susteck an.
Beim nächsten Bonner Wortklangraum am 5.4. im Dialograum Kreuzung an Sankt Helena wird Olivier Messiaens Quatuor pour la fin du temps Texten von Jean Paul bis Celan gegenübergestellt und am gleichen Ort eröffnet am 26.4. das Quartett Gratkowski-Denhoff-Philipp-Fischer das Kunstprojekt Bildersturm. Soeben hat die Beethovenstiftung für Kunst und Kultur die norwegische Künstlerin Maia Urstad zur stadtklangkünstlerin bonn 2017 berufen.
Das Landestheater Detmold bringt eine Neuinszenierung von Henzes Elegie für junge Liebende auf die Bühne. Nach einer Einführung am 23.4. findet die Premieren am 29.4. im Theater Gütersloh und am 5.5. im Landestheater Detmold statt. Ebenfalls im Theater Gütersloh ist am 2.4. die Musikfabrik mit schönsten (Liebes)Liedern zu Gast. Bei Earquake, dem Epizentrum für experimentelle der Musik der HfM Detmold, hält Gordon Kampe am 25.4. einen Vortrag mit vorausgehendem Workshop.
Beim Aprilprogramm des Krefelder TAM erklingen (jeweils freitags um 22 Uhr) 40 kurze musikalische Erzählungen für diverse Klangerzeuger von Alfred Pollmann und beim Kammerkonzert am 30.4. im Theater Krefeld steht Cellomusik von Gubaidulina und Penderecki auf dem Programm.
Im Forum Leverkusen bringt Carolina Eyck am 7.4. das Theremin zum Klingen.
Am 23.4. ist das Kammerkonzert mit Cellomusik von Gubaidulina und Penderecki im Theater Mönchengladbach zu erleben und am 28.4. eröffnet das ART Ensemble NRW seine neue Reihe mit Werkstattkonzerten im Rathaus.
In einer Veranstaltung des Studios für Neue Musik der Uni Siegen befasst sich Marco Hoffmann am 27.4. in einem Vortrag mit einem Werk von Georg Friedrich Haas.
Die Kinoreihe cine:ort im Wuppertaler ort widmet sich am 6.4. Charlie Parker und vom 28. bis 30.4. dreht sich drei Tage lang alles um Portugal – mit Musik, Film und leckeren Häppchen. Im Skulpturenpark Waldfrieden umrahmen zwei Werke der deutsch-amerikanischen Komponistin Ursula Mamlok am 22.4. das nächste Tonleiterkonzert. Weitere Jazztermine finden sich bei Jazzage.
Zum Inhaltsverzeichnis aller bisher erschienenen Gazetten zur neuen Musik