Gazette Neue Musik in NRW - Ausgabe September 2021

Gewesen: Wandelweiser – Kammeroper Superposition – Ruhrtriennale

Angekündigt: Klangzeit Münster – Festival Transient in der Eifel – Hörfest in Detmold – Geburtstagskonzerte für Maria de Alvear und HP Platz u.v.a.m.

 

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[Wandelweiser]

 

Es liegt nicht nur an der Pandemie, dass das Thema Vergänglichkeit mir zurzeit besonders nahe ist. „Man sieht nur, was man weiß“, hat ein großer deutscher Dichter einst gemutmaßt. Vielleicht lässt sich das übertragen: Man hört, was man fühlt. Da kommt der etwas theatralische Satz „[…] our existence is but a brief crack of light between two eternities of darkness“ gerade recht. Er stammt von Nabokov und Lukas Huber hat ihn seiner Performance slow fire / durch mich vorangestellt. In einer One-Man-Show umkreist er mit Texten von David Foster Wallace (aus seinem posthum veröffentlichten Werk The Pale King), Calvino, Flusser u.a. Facetten der Endlichkeit. Bei einem derart schwergewichtigen Thema lauert die Gefahr des Pathos an jeder Ecke, aber Huber versucht ihr durch Reduktion der Mittel und behutsame Verfremdungen zu entgehen. Seine Stimme wird verstärkt, überlagert, wiederholt, ergänzt, mäandert zwischen Sprechen und Singen und an genau der richtigen Stelle leuchtet eine einsame Glühbirne auf. Wie üblich bei den sommerlichen Veranstaltungen der Wandelweisergruppe, die diesmal in der Düsseldorfer Jazzschmiede stattfanden, werden die einzelnen Beiträge im Laufe einer Woche wiederholt, variiert und entwickelt und irgendwann ist dann auch die Glühbirne nicht mehr nötig, weil die Klänge und Worte für sich sprechen. Der Tod ist als maximale narzisstische Kränkung interpretiert worden, er konfrontiert uns auf brutalst mögliche Weise mit unserer Ohnmacht. Ein Versuch, dieser zu entkommen, ist laut Flusser die Vergegenständlichung der Welt, die er im Bauplan der abendländischen Kultur- und Geistesgeschichte verortet. Die Einteilung der Welt in Subjekt und Objekt vermittelt eine Illusion der Kontrolle, der sich die Musik widersetzt, indem sie dem Dingfestmachen ein Resonieren, ein Dazwischen gegenüberstellt.

An diesem Punkt setzt die Philosophin Jane Bennett an, die in ihrem Werk Vibrant Matter die gängige Aufteilung der Welt in „stumpfe Materie (es, Dinge) und dynamisches Leben (wir, Seiendes)“ in Frage stellt. Die genannte Kränkung des Ego sieht sie nicht als Bedrohung sondern als Chance: „Um das ansonsten wichtige Thema der Subjektivität wird im Folgenden also nicht viel Aufhebens gemacht werden. Ich will mich auf die Aufgabe konzentrieren, ein Vokabular und eine Syntax für die aktiven Kräfte zu entwickeln, die von Nichtsubjekten ausgehen.“ Ein Ansatz, den sie auf sehr konkrete Weise mit unseren alltäglichen Erfahrungen verknüpft und in seinen politischen Dimensionen weiterdenkt. Heather Frasch und Koen Nutters nehmen sie beim Wort, indem sie in and/in Naturmaterialien resonieren lassen und mit Instrumentalklängen und Texten zu einer filigranen Klanglandschaft verweben. Dabei kommen selbstgebaute kinetische Skulpturen zum Einsatz, „set into motion during a performance by placing dangling objects onto vibrational surfaces in precarious positions to create erratic sonic textures.“ Schon die Worte „dangling – vibrational – precarious – erratic“ lassen einen innerlich mitschwingen!

Ich werde die Figuren des 'Lebens' und der 'Materie' wiederholt umkehren, ihnen solange zusetzen, bis sie merkwürdig zu erscheinen beginnen – ein wenig so, wie ein an sich geläufiges Wort zu einem fremden, sinnfreien Geräusch werden kann, wenn man es nur oft genug wiederholt. In dem durch diese Verfremdung geschaffenen Raum wird es einer lebhaften Materialität möglich sein, Gestalt anzunehmen“, schreibt Bennett. Dieses Changieren zwischen Sinn und Klang erkundet auch Lukas Huber, wenn er sich „dem stummen Haufen der Dinge“ mit hartnäckiger Wiederholung und insistierender 'verdoppelter' Aufmerksamkeit nähert. Die Frage nach dem Verstehen stellt sich auch bei Marianne Schuppes Lesung colline sur line, dem ein selbstverfasster, tagebuchartiger, teils während des Lockdowns entstandener Text zugrunde liegt. Schuppe liest leise, teils an der Grenze des Hörbaren, lässt ihre Stimme in Gesang hinübergleiten, von fragilen Instrumentalklängen begleiten und beantworten. Zunächst versucht alles in mir, der Sprache habhaft zu werden, Unruhe, fast Unwille kommt auf, wenn ich dabei an Grenzen stoße. Aber was bedeutet 'verstehen'? Die akustische Erfassung (da hilft womöglich ein Hörgerät), die Zuordnung von Sinn (da hilft womöglich eine Übersetzung oder Erläuterung) oder das empathische Einfühlen? Sobald es mir gelingt loszulassen, mich den Wortklängen zu überlassen, entsteht ein angenehmer Schwebezustand, der – seltsamerweise – auch den semantischen Zugang begünstigt.

Natürlich gab es bei Wandelweiser auch alte Bekannte – so zum Beispiel die wunderbare Butoh-Tänzerin Sanae Kagaya, die von Eva Maria Houben mit neuen Kompositionen am Klavier begleitet wurde, oder in der zweiten Veranstaltungswoche Christoph Nicolaus mit seinen Steinharfen im Duo mit dem Perkussionisten Tobias Liebezeit. Die Musik, die in diesen und anderen Beiträgen ihre Kraft aus dem gemeinsamen Hören und Resonieren der Beteiligten schöpft, gewinnt eine nicht nur sinnliche sondern körperliche Dimension, wie Vilém Flusser es in Die Geste des Musikhörens anschaulich beschrieben hat: „Die Haut, jenes Niemandsland zwischen Mensch und Welt, wird dadurch aus Grenze zu Verbindung. Beim Musikhören fällt die Trennung zwischen Mensch und Welt, der Mensch überwindet seine Haut oder, umgekehrt, die Haut überwindet ihren Menschen.“

 

[Kammeroper Superposition]

 

Mit einer anderen Grenze und ihrer zunehmenden Auflösung befasst sich Frank Niehusmann in seiner elektronischen Kammeroper Superposition für Roboterinnen und Maschinenbedienende, die am 29.7. auf Zollverein in Essen zur Uraufführung kam und „die gegenseitige Durchquerung und Überlagerung von Mensch und Maschine“ zum Thema hat. Auf einem quadratischen Spielfeld begegnen sich drei menschliche Akteure und vier Automaten-Figurinen und schon bei dieser Gegenüberstellung verwischen die Eindeutigkeiten. Während die Menschen wie Hohepriester mit aufragenden Filzhüten und langen Gewändern sich recht steif an ihren Pulten festhalten, wuseln die mit dekorativem verspieltem Kopfputz versehenen Roboter quer durch den Raum und bringen Leben in die Bude. Sie sind es auch, die uns bei einem Parforceritt durch die einschlägige, mehr oder minder aktuelle Literatur mit tiefschürfenden Gedanken zu den Themen Bewusstsein, Intelligenz, Anthropomorphismus und Kapitalismus konfrontieren. Bewusstsein entpuppt sich als Oberflächenphänomen, unter dem sich ein „Mechanismus von furchterregender Komplexität“ abspielt, den das Bewusstsein zwar zu repräsentieren aber niemals zu durchdringen vermag. Stattdessen flüchtet es sich „aus romantischer Unkenntnis dieser Systematik“ in ein Gefühl des freien Willens. Die Wahlmöglichkeiten scheinen aber begrenzt zu sein: Mit dick bandagierten Fingern aktivieren die menschlichen Protagonisten über ein Touchpad Klangkonserven aus der Steinzeit der elektronischen Musik: Es rumpelt und wummert, zirpt und tuckert, gluckert und fiept und erstaunt stellt man fest, wie viel Patina die einstige Zukunftsmusik bereits angesetzt hat. Das versprüht zwar einen gewissen nostalgischen Charme, führt aber dazu, dass sich im Vergleich zum überbordenden gedanklichen Input die visuelle und akustische Ebene als zunehmend redundant erweist.

 

[Ruhrtriennale]

 

Auch bei der Ruhrtriennale wird uns kein Rosengarten versprochen. Von sanfter Traurigkeit beim Anhören von Musik ist im Vorwort des opulenten Programmbuchs die Rede. Doch dabei bleibt es nicht. Gleich die erste Musiktheaterinszenierung, Bählamms Fest, gerät zum Schlachtfest. Die Szenerie, ein einsames Haus in nebliger Heidelandschaft, die sich weit in die gefühlte Unendlichkeit der Bochumer Jahrhunderthalle erstreckt, strahlt zwar eine gewisse Melancholie aus. Aber das Publikum merkt schnell, dass es hier nicht geheuer zugeht und hätte es sich mit Blick auf die Zeremonienmeisterinnen auch denken können. Das Werk geht zurück auf ein Stück der Surrealistin Leonora Carrington, die ihre Erfahrungen mit privaten und politischen Widersachern in ein grotesk überzeichnetes Familiendrama einfließen lässt. In den 90er Jahren haben sich Elfriede Jelinek und Olga Neuwirth der Sache angenommen. Beide haben wiederholt zusammengearbeitet und stehen nicht gerade im Ruf, zart besaitet zu sein. Die Geschichte handelt, grob zusammengefasst, von Theodora (Katrien Baerts), die, von einem übergriffigen Ehemann (Dietrich Henschel) und einer despotischen Schwiegermutter (Hilary Summers) malträtiert, sich in die Scheinwelt des Kinderzimmers flüchtet, wo sie sich dem Wolfsmenschen Jeremy (Andrew Watts) hingibt. Irgendwo da draußen treibt ein Schafsmörder sein Unwesen, aber auch innerhalb der Gemeinschaft der Schafe ist nicht alles eitel Sonnenschein: Der Oberschaftsbock entpuppt sich als geiler Satanspriester. Die Polizisten wiederum, vermeintliche Garanten für Recht und Ordnung, erscheinen als devote Köter, allzeit bereit sich vor den Karren der Mächtigen spannen zu lassen. Hier gibt es nichts, woran man sich halten kann, die Grenzen zwischen Mensch und Tier, Mann und Frau, Gut und Böse verschwimmen und so ist es keine schlechte Idee, dem Rat des Programmhefts zu folgen, den Orientierungsverlust zu akzeptieren und sich dem Erleben der Dinge und nicht ihrer Bedeutung hinzugeben. Dies gelingt vor allem dank Neuwirths Musik. Obwohl sich die von ihr großzügig eingesetzte Technik in den mehr als zwanzig Jahren seit der Uraufführung (1999 in Wien) rasant weiterentwickelt hat, klingt sie frisch und angriffslustig. Unter dem Dirigat von Sylvain Cambreling darf das Ensemble Modern heulen, zischen und kantig aufschreien. Die Live-Elektronik lässt die Klänge schrill und bösartig zirpend durch den riesigen Raum irrlichtern. Doch auch hier ist nichts wie es scheint. Die Stimmen werden verzerrt und verfremdet oder durch Morphing transformiert, so bei Jeremy, der – als Countertenor sowieso jeder Eindeutigkeit entzogen – sich in einen heulenden Wolf verwandelt. Neuwirth schreckt auch vor raffiniert eingesetzten Effekten nicht zurück, lässt überdrehte Koloraturen ins Orchester schwappen, Kinderlieder und getragene Melodien ins Groteske kippen. Das Regieteam Dead Centre (Ben Kidd und Bush Moukarzel) macht die Auflösung von Identitätsdefinitionen zum Leitgedanken. Alles dreht sich um jenes einsame Haus auf weiter Flur, das auch als Projektionsfläche dient, wodurch oftmals die wahre Natur der Protagonisten kenntlich gemacht wird. Glühende Wolfsaugen, Nebelschwaden und Spiegelungen im Teich sorgen für stimmungsvolle Bilder, da wären plüschige Monster und geschrumpfte Comichelden als amüsante Gimmicks gar nicht nötig gewesen. Der von Dead Centre in einem Interview beschworene Appell für freie Identitätsentfaltung, Vielfalt und Mehrdeutigkeit will sich so jedenfalls nicht vermitteln. Theodora entzieht sich zwar zum Schluss dem ihr auferlegten Diktat, jung und schön zu bleiben, aber glücklich wird hier keiner. Der einzige Gewinner ist die Musik, nicht zuletzt dank der hervorragenden Leistung aller Mitwirkenden.

 

Neue Leiterin der Ruhrtriennale für die Jahre 2021 bis 2023 ist die Theaterregisseurin Barbara Frey, die gleich zum Auftakt mit Der Untergang des Hauses Usher eine eigene Inszenierung beisteuert. Ihr Werdegang ist von Musik geprägt, sie spielte Schlagzeug in einer Band, schrieb Songtexte und arbeitete mit dem Perkussionisten Fritz Hauser zusammen, der vom 16. bis 18.9. mit Point Line Area zu erleben sein wird. Entsprechend musikaffin ist ihr Umgang mit Poe. Offenbar geht es ihr nicht darum, eine stringente Geschichte zu erzählen, was man schon daran erkennt, dass sie Passagen aus vier weiteren Erzählungen einfließen lässt. Gleich zum Auftakt erklingen eine gefühlte Ewigkeit lang monotone enervierende Klavierakkorde, die sich in den Kopf hämmern und jenen für Poe typischen Zustand der Unentrinnbarkeit erzeugen. Wenn es um Atmosphäre geht, hat natürlich die Industriearchitektur des Ruhrgebiets ein Wort mitzureden und so reichen als Kulisse die mächtigen Ungetüme in der Maschinenhalle Zweckel, die einst ebenso unerbittlich rotierten, bevor sie für immer zum Schweigen gebracht wurden. In dieser akustischen und optischen Ausweglosigkeit begegnen uns sechs Personen, uniform in Schwarz gekleidet, die uns in Poes Sprache und Gedankenwelt hineinziehen. Bei ihm ist immer alles schon unerträglich und durchtränkt von äußerstem Entsetzen, bevor es richtig los geht, doch wie das Haus Usher bekommt diese Überbietungsrhetorik, dieses monolithische Grauen Risse. Die Schauspieler bedienen sich ihrer eigenen Sprache (neben Deutsch und Englisch auch Ungarisch) und werden so zu Individuen. Wenn sie einen der ihren mit Rollatoren aggressiv umzingeln, ist da im Abgang ein kleiner Hüpfer, der uns vielleicht signalisieren will, dass wir das ganze Morbiditätsgeschwurbel nicht so ernst nehmen sollen. Und da ist die Musik, aus der Ferne erklingt ein Chor, der von einem Draußen kündet (wie das Licht, das gelegentlich durch die Fenster zu dringen scheint und die Figuren magisch anzieht), und im Hier und Jetzt sind es Songs (u.a. von Pink Floyd und The Doors), die sich dem Untergang entgegenstemmen bzw. noch die perfideste Drohung in ein Lockmittel verwandeln. „Run from me, darling, You better run for your life.“

 

Neben Theater und Tanz bietet die Ruhrtriennale auch ein interessantes Musikprogramm. Im Mittelpunkt eines weiteren Konzerts mit dem Ensemble Modern stand die italienisch-amerikanische Komponistin Patricia Alessandrini, die sich der Einordnung in stilistische Schubladen bewusst entziehen möchte, ein Anliegen, dass sie in einem Zitat von Gerhard Richter „Stil ist Gewalttat, und ich bin nicht gewalttätig“ prägnant formuliert findet. Ausgangspunkt ihres Komponierens sind oftmals Werke der Musikgeschichte, doch was sie daraus macht ist bemerkenswert. Sie eliminiert alle identitätsstiftenden Stilmerkmale und konzentriert sich stattdessen auf das vermeintlich Beiläufige wie Nebengeräusche, Obertöne oder Interpretationsspuren. Diese unterzieht sie einer Computeranalyse und destilliert daraus eigenständige Kompositionen. Wie sich das konkret anhört, war anhand von drei Werken zu erleben, die in direkter Konfrontation mit dem jeweiligen 'Ausgangsmaterial' zur Aufführung kamen. In Black is the color ...(omaggio a Berio) hören wir körperloses Flirren, hingehauchte Töne von Flöte und Klarinette, diffuse Stimmen, Geräuschhaftes aus dem Klavierinneren. Von Berios Black is the Colour aus Folk Songs ist nur eine kaum greifbare absteigende Basslinie übriggeblieben. Doch es sind nicht nur musikalische Schubladen, denen sie sich widersetzt, in menus morceau par un autre moi réunis kommt ein emanzipatorischer Aspekt hinzu. Ausgangspunkt ist Debussys szenische Musik Les Chansons de Bilitis zu 12 Gedichten von Pierre Louys, die dieser als authentische Schöpfungen einer altgriechischen Kurtisane ausgab. Zwei Männer maßen sich an, die Perspektive einer Frau einzunehmen und aus ihrem Empfinden heraus über Lust und Liebe zu sprechen, eine Aneignung, die uns heute befremdlich vorkommt. Bei Alessandrini entsteht daraus ein feines Gespinst für Gitarre und Live-Elektronik, bei dem Mauricio Carrasco sich wie ein Alchemist über sein vor ihm ausgebreitetes Instrument beugt und ihm mit ungewöhnlichen Spieltechniken glockenähnliche, schattenhafte Klänge entlockt. Damit entzieht die Komponistin sich nicht nur dem Stildiktat sondern auch dem Akt der Vereinnahmung, indem sie ihn mit einer Geste der Verweigerung beantwortet. Arnold Schönberg ließ sich zu seinem Streichsextett Verklärte Nacht von einem Gedicht Richard Dehmels inspirieren und so wird in diesem Werk nicht nur die Nacht verklärt sondern auch der gönnerhafte Gestus eines Mannes, der seiner (leider nicht von ihm) schwangeren Geliebten großzügig die Absolution erteilt. Alessandrinis Forklaret Nat für Streichquartett antwortet darauf mit zarten Klängen, die sich von den Instrumenten zu lösen scheinen, richtungslos und sich jeder Narration entziehend. Alessandrinis Musik fasziniert nicht nur als Klangereignis sondern auch durch ihre Haltung, die gerade aus der Zurücknahme Intensität gewinnt.

 

Ganz andere Töne sind von Peter Brötzmann zu erwarten, auch wenn naturgemäß die Lunge mit 80 Jahren nicht mehr ganz so viel hergibt wie in der guten alten Zeit. Sein Trio mit dem Schlagzeuger Michael Wertmüller (im September mit D°I°E auch als Komponist zu erleben) und dem Bassisten Marino Pliakas (der mir vor Jahren bereits mit seiner Band Steamboat Switzerland positiv auffiel) firmiert unter dem Titel Full Blast und wird diesem auch gerecht. Spitzfingrige Feinarbeit war noch nie Brötzmanns Sache, schmutziges Blöken („brötzen“) schon eher. Um mit seinen Kräften zu haushalten, sind jetzt schon einmal melodiöse Anwandlungen drin, vor allem wenn er mit dem Sopransaxophon gemächliche Linien durch den Raum zieht. Doch Wertmüller und Pliakas sorgen dafür, dass keine Gemütlichkeit aufkommt. Schlagzeug und Bass erzeugen ein zunächst unterschwelliges Grummeln, das zu einem unerbittlichen Tsunami anschwillt und sich gnadenlos ins Ohr fräst und hämmert. Und genau zum richtigen Zeitpunkt ist Brötzmann dann wieder (fast) der Alte, gibt seinem Instrument die Sporen und zeigt wie es geht. Hoffen wir, dass er noch lange durchhält.

 

[Termine im September]

 

Nach der langen Durststrecke kann man es kaum glauben, wie viel schon wieder los ist, aber da das Coronaeis noch dünn ist, empfiehlt es sich, alle Termine kurzfristig zu überprüfen.

 

Köln

 

In der Philharmonie stehen das Ensemble Modern mit A House of Call von Heiner Goebbels am 6.9., das WDR Sinfonieorchester mit Lining up von Nico Muhly am 17. und 18.9. und das Arditti Quartet am 30.9. auf dem Programm. In der Kunststation Sankt Peter erwarten uns ein Geburtstagskonzert für Maria de Alvear mit der Musikfabrik am 10.9., eine Matinee mit dem Sonar Quartett am 11.9., die reiheM am 22.9. und ein Ehrentag zum 70. Geburtstag von HP Platz am 25.9. Im Zentrum Lied eröffnet die neue Saison am 1.9. mit Schubert und Rihm, Chamber Remix lädt am 5.9. ins Kunsthaus Rhenania, am 12.9. wird die Landschaft beim Urban Gardening zum klingen gebracht, das ensemble handwerk kollaboriert am 16.9. in der Alten Feuerwache mit dem Meitar Ensemble, der Schweizer Perkussionist Christian Wolfarth ist am 17.9. im atelier dürrenfeld/geitel zu Gast, das Ensemble Garage bringt am 22.9. François Sarhans Musiktheater The Right Ear im Kulturbunker Mülheim zur Aufführung und bei den Soirée Sonique erwartet uns am 29.9. Verena Barié.

In der Oper Köln hat am 5.9. das Tanzprojekt Flut Premiere, bei dem Beethoven auf Tanz und elektronische Musik trifft, und am 18.9. werden mit Schnittstellen [II] drei Kurzopern aus der Taufe gehoben.

Vom 9. bis 12.9. feiert das 13. Ambientfestival die Zivilisation der Liebe und vom 29.9. bis 3.10. dreht sich beim Multiphonics Festival im Alten Pfandhaus alles um die Klarinette. Mit dabei ist auch das Trio Catch und vom 30.9. bis 7.10. schließt sich ein Roadtrip nach Dortmund, Düsseldorf, Freiburg, Meschede, Müllheim/Baden und Wuppertal an.

 

ON – Neue Musik Köln bietet am 29.9. eine weitere Informationsveranstaltung in der Reihe ONpaper. Fast tägliche Events sind im Loft zu erleben (z.B. Elliot Sharp am 12.9., das RISM-Festival rund um Hans Lüdemann vom 16. bis 18.9. oder Wissel und Lytton am 29.9.) und jeden 2. und 4. Dienstag im Monat funkt 674.fm Elektronik und Klangkunst in den Äther – erlebbar im Webradio und jetzt auch wieder in Live-Session. Weitere Termine finden sich bei kgnm und Musik in Köln und Veranstaltungen mit Jazz und improvisierter Musik bei Jazzstadt Köln.

 

Ruhrgebiet

 

Auch im September sorgt die Ruhrtriennale für Highlights im Festivalkalender: Michael Wertmüller bringt ab 2.9. mit seinem Musiktheater D°I°E alle Sinne in Aufruhr, Michael Finnissys fast sechsstündiger Zyklus The History of Photography in Sound erlebt an zwei Tagen seine deutsche Erstaufführung, Fritz Hauser zelebriert mit Point Line Area ein Perkussionsritual, zehn unterschiedlich gestimmte Klaviere bringen Edu Haubensaks Große Stimmung zu Gehör und mit dem Klangforum Wien kann man sich einem fünfstündigen Nachtraum hingeben.

 

Vom 25.9. bis 3.10. sorgt das Blaue Rauschen, ein Festival für digitale Soundexperimente, elektronische Musik, Performance, Tanz und Installation, in Bochum, Dortmund und Essen für ungewöhnliche akustische und visuelle Erlebnisse.

 

In Bochum stellt sich vom 26.8. bis 5.9. bei der Bobiennale die freie Szene vor (mit dabei u.a. das Duo Blume – Muche sowie Gilda Razani mit ihrem Theremin). Der Perkussionist Martin Blume ist auch beim Ruhr Jazzfestival im Kunstmuseum Bochum vom 24. bis 26.9. zu erleben.

 

Vom 9. bis 12.9. lockt das visual sound outdoor festival in die Dortmunder Nordstadt – mit dabei neben vielen anderen Christoph Schläger mit seinen Geräuschgestalten und die Improviser in residence des mœrs festival 2021 Kevin Shea und Matt Motel als Duo Talibam! Beim Theater Dortmund stehen zwei Uraufführungen auf dem Programm: am 16.9. Persona, eine Oper für Jugendliche von Thierry Tidrow (Komposition) und Franziska vom Heede (Libretto), und am 26.9. Der Hetzer von Bernhard Lang, eine Überschreibung von Verdis Otello. Das Konzerthaus plant im Januar eine Zeitinsel mit Ondrej Adámek. Zur Einstimmung erklingt im Symphoniekonzert mit Simon Rattle am 24.9. sein Werk Where are you? für Mezzosopran und Orchester.

 

Im Lokal Harmonie in Duisburg erwarten uns neben den Soundtrips NRW im musikclub das Duo Interstellar 227 am 5.9. und das Trio Sin-3 am 23.9. Im Earport ist am 13.9. das Bozzini Quartet zu Gast und das Ensemble Crush präsentiert am 16.9. im Lehmbruck Museum Beuys' Erdklavier (am 18.9. auch im Kurhaus Kleve.) Die Duisburger Philharmoniker lassen in ihrem 2. Philharmonischen Konzert am 29. und 30.9. Kreaturen aus Klang von Adams, Glass und Bates lebendig werden.

 

Die Folkwang Universität Essen veranstaltet vom 25. bis 30.9. das Global Trumpets Festival. Dabei trifft zeitgenössische Musik auf Barock, Marco Blaauw interpretiert I can't breathe von G. F. Haas und Peter Evans ist in Workshops und Konzerten zu erleben. In der Essener Philharmonie steht am 30.9. das Perkussionsensemble Splash auf der Bühne.

 

In Gelsenkirchen lädt mex am 4.9. zu einem Schaufensterbummel der besonderen Art.

 

Ebenfalls am 4.9. kann man in Mülheim an der Ruhr die Anker lichten und bei Ruhr Soundfloat, einer Aktion der Gesellschaft für Neue Musik Ruhr, von einem Boot aus neuen Klängen lauschen.

 

Düsseldorf

 

In der Tonhalle stehen am 1.9. das Notabu-Ensemble mit seiner Reihe 'Na hör'n Sie mal!' und am 7.9. das Ensemble Modern mit Heiner Goebbels A House of Call auf dem Programm. In der Kunsthalle präsentiert am 2.9. das Performancekonzert Zwei Halbmonde anlässlich der Ausstellung tomodachi to Werke deutscher und japanischer Komponisten und Komponistinnen. Vom 18. bis 19.9. kommen im K21 Saties Vexations als 24-stündige Hommage an Joseph Beuys zur Aufführung. Die Reihe New Counterpoints des Vereins musik21 widmet am 19.9. rhizomartig wachsenden Schleimpilzen mehrere Uraufführungen und im Rahmen des Klavierfestivals Ruhr spielt Pierre-Laurent Aimard am 20.9. im Robert-Schumann-Saal Werke von Messiaen, Andre, Kurtág und Ligeti. Wer für creative Extravaganzen empfänglich ist, kann am 19., 15. oder 30.9. im Subsol vorbeischauen.

 

Sonstwo

 

Auf Einladung von Soundtrips NRW trifft das Schweizer Trio Andrej - Zhang – Zimmermann vom 5. bis 11.9.21 in Münster, Essen, Köln, Bochum, Düsseldorf, Wuppertal und Duisbug auf wechselnde Gäste. Das Konzert in Duisburg am 11.9. ist dem im Februar verstorbenen Musiker Philippe Micol gewidmet. Weitere Termine mit improvisierter Musik finden sich bei NRWJazz.

 

Christiane Oelze bringt am 12.9. in Köln den Liederzyklus liebe/tod – man/woman von Christoph Maria Wagner zur Uraufführung. Weitere Aufführungen finden am 13.9. in Hagen, am 17.9. in Bonn und am 19.9. in Essen statt.

 

Die Reihe 'Hören und Sprechen über Neue Musik' der Gesellschaft für zeitgenössische Musik Aachen widmet sich am 3.9. der italienischen Komponistin Clara Iannotta.

 

Im Fokus des Festival diagonal der Bielefelder cooperativa neue musik steht am 24. und 25.9. der Musiker und Komponist Willem Schulz. Beim Jour fixe am 6.9. wird das Festivalprogramm vorgestellt. Die Zionskirche wagt einen Neustart mit vier Neue-Musik-Konzerten am 5., 12., 19. und 26.9.

 

Auch beim Beethovenfestival in Bonn erklingt Zeitgenössisches – z.B. Nono am 1.9., Nicolaou am 2.9., Lachenmann am 3.9., Barraqué am 5.9. und Haas am 9.9. Im Rahmen der Konzerte im Post Tower (Eintritt frei!) kommt am 4.9. Feldmans Three Voices zu Gehör.

Beim Wortklangraum am 1.9. erklingt Klaviermusik von Kurtág, Cage und Ligeti und das Asasello Quartett bringt am 16.9. Elliot Sharps Die größte Fuge, seine Auseinandersetzung mit Beethoven, zur Aufführung (am 17.9. auch in Moers). Im Frauenmuseum findet am 19.9. ein Konzert der Gedok statt und die Musikfabrik ist am 27.9. im Rahmen der Sonderausstellung Zündstoff Beethoven im Beethovenhaus zu Gast.

 

Das 12. Hörfest in Detmold der Initiative Neue Musik in Ostwestfalen-Lippe widmet sich inneren Stimmen.

 

In der Eifel findet vom 6. bis 12.9. unter der Leitung von Jeremias Schwarzer erstmals das interdisziplinäre Musik- und Kunstfestival Transient statt.

 

Das Krefelder TAM widmet dem Heiligen Jupp vom Niederrhein im September ein Fluxusprogramm (immer freitags um 22 Uhr).

 

Das Ensemble Horizonte gastiert am 29.9. mit seinem Programm Dialoge über die Natur in der St. Simeonis-Kirche in Minden.

 

In der Musikhochschule Münster spielt das ensemble ascolta am 11.9. zum Auftakt der Klangzeit Münster Werke von Ablinger und Hernandez sowie eine Uraufführung von Annette Schmucki. Weitere Konzerte finden vom 21. bis 26.9. statt mit Uraufführungen von Torsten Rasch, Joanna Wozny, Huihui Cheng, Yannis Kyriakides, Alwynne Pritchard und Oxana Omelchuk.

 

Das münsterlandweite Klangkunstfestival Soundseeing lädt ein zu Klanginstallationen in Oelde, Lüdinghausen und Gronau sowie am 8.9. zu einem Konzert im Kunstverein Münsterland in Coesfeld.

 

Im Kultur- und Medienzentrum Pulheim trifft am 14.9. Martin Zingsheim das E-Mex-Ensemble.

 

Der Wuppertaler ort kündigt einen Film über Brötzmann am 2.9., die Soundtrips NRW am 10.9., ein Konzert mit Elliot Sharp am 11.9. und Nina Maria Zorn & Akasha Daley in der Reihe 'all female' am 16.9. an. Partita Radicale bringt das experimentelle Musiktheater love peace & happiness am 21. und 22.9. im Haus der Jugend Barmen und am 29.9. in Solingen zur Aufführung.

 

Zu den seit 2017 erschienenen Gazetten Neue Musik in NRW