Ballett am Rhein: b.30
14. Januar 2017 - 19. Februar 2017
Concerto grosso Nr. 1 (Uraufführung) Remus Sucheana
Außenseiter oder Einzelgänger? Wie geht man um mit der Ausgrenzung aus einer Gruppe? Ist die vielleicht (selbst-)bewusste Wahl des Einzelnen gegen sogenanntes „normales“ kontaktfreudiges Verhalten nicht ebenso legitim? Und wird der Einzelgänger nicht erst durch die stigmatisierende Wahrnehmung und ihm durch die Gruppe entgegengebrachten Argwohn als „Außenseiter“ in Unsicherheit und gar ängstlich-neurotische Störungen getrieben? Remus Sucheana thematisiert in seiner Uraufführung die Ausgrenzung des Einzelnen aus der Gruppe, den Gegensatz von Einheit und Einsamkeit, von vermeintlich schwachen, im Schatten der Gruppe stehenden Außenseitern und der standfesten, dominierenden Gemeinschaft mehrerer Gleichgesinnter. Der Bühnen- und Kostümbildner Darko Petrovic entwirft für ihn passend zu seiner Idee einen Bühnenraum, der die Tänzer in das räumlich sichtbar werdende Spannungsfeld dieser psychosozialen Gegenpole platziert.
Der aus Rumänien stammende Künstler Remus Sucheana tanzte nach seiner Ausbildung in Cluj-Napoca und an der Akademie des Tanzes in Mannheim unter Birgit Keil seit 1999 unter Martin Schläpfers Leitung beim ballettmainz. Von 2009 bis 2014 war er auch auf den Bühnen in Düsseldorf und Duisburg als Tänzer des Balletts am Rhein zu erleben, zur Spielzeit 2016/17 übernimmt er an der Seite Martin Schläpfers die Direktion der Compagnie. Mit seiner Uraufführung „Concerto grosso Nr. 1“ präsentiert sich Sucheana nun erstmals auch als Choreograph.
Als musikalische Basis wählte Remus Sucheana Alfred Schnittkes „Concerto grosso Nr. 1“ für zwei Soloviolinen, Cembalo, präpariertes Klavier und Streichorchester – ein Werk, das der Geiger Gidon Kremer sich 1977 vom sowjetischen Komponisten gewünscht hatte. Hier klingt in für Schnittke so typischen verzerrten Klängen und in polystilistisch manipulierten Klangwelten die Fratze eines barocken Concerto grosso durch, und immer wieder bricht auch die Sphäre des Banalen ein wie etwa im letzten Satz in Gestalt eines Tangos. So bietet diese Musik dem Ballett eine Vielfalt an Anknüpfungsmöglichkeiten, aber auch die Freiheit, mit Bekanntem, vielleicht Trivialem ebenso manipulierend, verzerrend und modernisierend umzugehen und zu einer eigenen Bewegungssprache zu finden.
Lonesome George Marco Goecke
Tänzer huschen von den Seiten in die Mitte des Raumes. Ihr Flattern mit den Armen überträgt sich auf den ganzen Oberkörper, so dass dieser wirkt, als hätte man ihn unter Starkstrom gesetzt. Unklar bleibt, ob dies ein Einfluss von außen ist oder nicht doch eher eine Energie – ein Zittern, Reißen, Flackern, Vibrieren –, die sich von ganz tief innen ihren Weg nach außen bricht. Ihre Schultern ziehen sie immer wieder hoch, ihre Finger verkrümmen sich zu Krallen; als wollten sie sich vor dem, was sich vor ihnen zeigt, schützen, halten sie ihre Hände vor die Augen und schleichen gebückt davon – gefangen in einer verstörenden Panik, die zu einem Bild tiefster Einsamkeit wird, wenn ihre zaghaft-verzweifelten Rufe nach George in den Weiten des Raumes verhallen.
Nach Lonesome George, jener 2012 auf den Galápagos-Inseln im Alter von 100 Jahren verstorbenen Riesenschildkröte, benannte Marco Goecke sein Ballett auf Dmitri Schostakowitschs Kammersinfonie op. 110a: „Lange hatte man gedacht, dass George der letzte seiner Art gewesen sei, aber es gibt doch noch zumindest verwandte Exemplare. Die Geschichte könnte als Allegorie meines Balletts gelesen werden: Auch in ihr scheinen die Tänzer manchmal allein zu sein, aber eigentlich sind sie es nicht. Es gibt noch Hoffnung“, so der Choreograph. „Die Einsamkeit ist unsere menschliche Grundtragik und im Tanz ist sie besonders intensiv erfahrbar. Ich empfinde den Körper als Gefängnis, nicht aus dem Körper heraustreten zu können – darin liegt die Verzweiflung in meinen Bewegungen begründet.“
Mit Marco Goecke konnte Martin Schläpfer einen der herausragendsten zeitgenössischen Choreographen für eine neue Kreation gewinnen – einen Künstler, dem es in den letzten Jahren auf einzigartige Weise gelang, eine unverwechselbare Bewegungssprache zu entwickeln, ein „Système Goeckien“ (Horst Koegler), das „seine surreal vibrierenden Wunderwerke – der Zeit, des Raums, des Körpers – kennzeichnet“, so die Zeitschrift tanz, die in ihrer Kritikerumfrage Marco Goecke 2015 zum „Choreographen des Jahres“ kürte. Mit „Lonesome George“ – uraufgeführt in Programm b.24 im Mai 2015 im Theater Duisburg – ist nun auch im Opernhaus Düsseldorf eine der faszinierendsten und berührendsten Choreographien unserer Zeit zu erleben.
Wounded Angel (Uraufführung) Natalia Horecna
Unter den jüngeren Choreographen ist es die aus Bratislava stammende Natalia Horecna, die zur Zeit in der europäischen Tanzlandschaft besonders aufhorchen lässt. Sie war Solistin in John Neumeiers Hamburg Ballett, tanzte im Scapino Ballet Rotterdam und Nederlands Dans Theater. Beim Taglioni – European Ballet Award 2014 wurde sie als „Beste Nachwuchschoreographin“ für ein Œuvre ausgezeichnet, das für so renommierte Ensembles wie u.a. das NDT, Hamburg Ballett, Wiener Staatsballett, Finnische Nationalballett, Königlich Dänische Ballett, Les Ballets de Monte Carlo, Slowakische Nationalballett und Bundesjugendballett entstand. Ihre Tanzstücke sind von starken Emotionen, extremen Energien und der Suche nach den versteckten Seiten in uns selbst geprägt. Als „schmutzigen Neoklassizismus“ bezeichnet Natalia Horecna ihren Stil, mit dem sie auf der Tanzbühne die dunkleren Seiten der Menschen auslotet, ihre Ängste, Nöte und inneren Kämpfe – nicht ohne dabei immer wieder auch zu einer ganz eigenen Schönheit vorzudringen.
Mit „Wounded Angel“ entsteht erstmals eine Kreation für das Ballett am Rhein – ein Werk, über welches Natalia Horecna schreibt: „In ‚Wounded Angel‘ möchte ich die Geschichte eines Außenseiters erzählen – eines Außenseiters in uns: einer, den wir gerne wegstoßen, auf den wir nicht achten; einer, der uns am Ärmel zupft, um auf sich aufmerksam zu machen, so dass wir uns ihm schließlich doch ein ganz klein wenig zuwenden. Die Vorstellung von ihm könnte niedlich sein, aber sie hat vor allem mit einem zu tun: dem versteckten Kind in uns, unserem anderen, schönen Selbst, das wir so oft vergessen. Ich möchte einen Blick auf die Liebe oder besser gesagt die Selbstliebe werfen, allerdings nicht in einem narzisstischen Sinn, sondern in einem zutiefst ehrlichen und profunden. Denn ich bin überzeugt, dass wir uns nur selbst lieben können, wenn wir unsere schwachen und starken Seiten, guten und schlechten Eigenschaften umarmen. Indem wir der Vergangenheit verzeihen, können wir den kostbaren Zustand erreichen, uns selbst im gegenwärtigen Augenblick so nahe wie möglich zu kommen und dabei zu unserem Herzen zurückzufinden. Erst dann können wir teilen, was für mich die eigentliche Essenz der Liebe ist. Wenn jeder von uns davon ergriffen würde, jeder Einzelne – würde das nicht zu einem umfassenden Heilungsprozess auf unserem wunderschönen Planeten führen? Es ist das Jahr 2016. Wie bewusst sind wir uns darüber? Um diese Frage wird es in meinem Ballett gehen.“